
Gilmore Girls oder Guiltmore Girls
„Manchmal wünsche ich mir Zeiten zurück, in denen wir nicht alle so auf Selbstoptimierung gedrillt waren und ich mich deutlich weniger guilty gefühlt habe, wenn ich vollkommen sinnfreien Beschäftigungen nachgegangen bin oder einfach gar nichts gemacht habe“, schrieb mir eine Freundin vor ein paar Wochen, nachdem sie die erste Staffel der Fernsehserie „Gilmore Girls“ aus den 2000er-Jahren gesehen hat.
Ich antwortete: „Schau doch noch die restlichen sechs Guiltmore-Girls-Staffeln!“
Angeregt durch diese Konversation habe ich mir Gedanken über den Sinn und Unsinn der allgegenwärtigen Selbstoptimierung gemacht.
Besser werden zu wollen, liegt in unserer Natur
Unter Selbstoptimierung versteht man den kontinuierlichen Prozess zur freiwilligen Verbesserung der persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Es geht also darum, das Beste aus sich zu machen.
Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Wer möchte nicht erfolgreicher, produktiver, schlauer, achtsamer, fitter, gesünder, attraktiver und begehrenswerter werden?
Es liegt in unserer Natur, wachsen zu wollen. Von Geburt an lernen wir täglich dazu. Und der Mensch im Allgemeinen hat schon immer versucht, seine Lebenssituation zu verbessern.
Wenn das Optimieren zum Wahn wird
In unserer hypervernetzten, sogenannten modernen Welt werden wir ständig mit dem Selbstbild und den Ansprüchen von uns und anderen konfrontiert. Das birgt die Gefahr, dass wir die Selbstoptimierung übertreiben oder sie gar zur Sucht oder zum Wahn wird.
Dann bestimmen Ziele, Zwänge und Zertifikate unseren Alltag. Dann setzen wir uns zu sehr unter Druck, besser zu sein als andere und als man selbst noch vor kurzer Zeit war. Dann investieren wir mehr und mehr in Ernährungsberater, Fitnessuhren, Schönheitsoperationen oder Online-Kurse. Dann bleiben Gesundheit, Glücksgefühle und Geld auf der Strecke – also das, wonach wir eigentlich streben.
Das richtige Maß finden
Um herauszufinden, ob Du es mit der Selbstoptimierung übertreibst, bereits das richtige Maß gefunden hast oder noch Verbesserungspotenzial hast, solltest Du sie analysieren. Stelle Dir einfach bewusst die folgenden Fragen:
- Warum versuche ich, in diesem Bereich mich und mein Leben zu optimieren? Möchte ich das überhaupt oder denke ich, es wollen zu müssen? Es ist wichtig, selbstbestimmt zu bleiben und nicht Dinge zu verändern versuchen, hinter denen Du im Grunde Deines Herzens nicht stehst.
- Brauche ich dabei immer ein Ziel oder einen Wettbewerb? Beim Wandern geht es um die Bewegung und das Naturerlebnis und selten um Rekorde oder die Zertifizierung zum Wanderführer. Auch beim Meditieren möchte man nichts erreichen – außer die Dinge so zu sehen und nehmen, wie sie sind.
- Bin ich überfordert? Überforderung und Perfektionismus können die Belastbarkeit einschränken, zu Stress, Unzufriedenheit und im äußersten Fall zum psychischen Trauma führen. Eine dauerhafte Unterforderung wirkt sich ebenfalls oft negativ auf Dein Heil aus.
- Habe ich ausreichend Ausgleich zu all der Selbstoptimierung? Du wirst nie perfekt sein und das ist okay so. Für Dein geistiges, seelisches und körperliches Wohlbefinden sind auch Müßiggang und Genuss essenziell.
Guilty pleasures im Zeitalter der Selbstoptimierung
Passend dosiert kann die Selbstoptimierung dazu beitragen, erfolgreicher, gesünder und zufriedener zu leben.
Für meinen Geschmack hat sie aber heutzutage einen zu hohen Stellenwert. Teilweise nimmt sie groteske Formen an, etwa bei der Effizienzsteigerung. Schnelllesetechniken sind bereits seit Jahrzehnten bekannt. Nun hat sich ein kostenpflichtiger Dienst etabliert, mit dem man sich die (vermeintlichen) Kernaussagen eines Sachbuchs in rund 15 Minuten einverleibt. Dem nicht genug ist es möglich, den Aufwand zu halbieren, indem man sich die Audiodatei in doppelter Geschwindigkeit anhört.
Zum Glück sind wir so frei, selbst zu entscheiden, wie wir unser Leben gestalten, was wir unter Balance verstehen, wie viel Selbstoptimierung und wie viele Guilty pleasures (also Vergnügen, für die man sich ein wenig geniert) wir zulassen.
Da wären wir wieder bei der eingangs erwähnten Freundin. Die hat sich in den letzten Wochen dann doch ihrem Guilty pleasure hingegeben und alle 153 Episoden der sieben Staffeln der „Gillmore Girls“ bingewatcht. Well done!